In den beiden vorherigen Beiträgen dieser Reihe (Das 1×1 der Familienaufstellungen) habe ich bereits zwei der Grunddynamiken, die in Familiensystemen wirken, vorgestellt. Heute geht es um den Ausgleich von Geben und Nehmen, die dritte der drei Grunddynamiken.
Inhaltsverzeichnis
Zugehörigkeit, Ordnung (Rang) und Ausgleich – die drei Grundprinzipien bilden das Grundgerüst eines jeden Familiensystems. Und sie spielen auch in allen anderen zwischenmenschlichen Systemen (Freundeskreis, Arbeitskollegen, Nachbarschaft usw.) eine Rolle. Wird eine der drei Grunddynamiken gestört, entsteht ein Ungleichgewicht im ganzen Familiensystem, eine sogenannte Verstrickung.
In diesem Beitrag gehe ich näher darauf ein, was „Ausgleich“ im Familiensystem überhaupt bedeutet und welche Folgen es haben kann, wenn es keinen ausgewogenen Ausgleich gibt.
Was bedeutet Ausgleich von Geben und Nehmen im Kontext des Familiensystems?
Es mag auf den ersten Blick so wirken, als wäre die Grunddynamik „Ausgleich“ selbsterklärend. Dennoch geht sie sehr tief und kann bei einem Ungleichgewicht eine starke Auswirkung auf die Familienmitglieder haben.
Im Grunde genommen geht es beim Thema Ausgleich immer um den Ausgleich von Geben und Nehmen. Das Geben und Nehmen kann auf verschiedene Arten ablaufen.
Die einfachste Form ist ein direkter Ausgleich. Das passiert zum Beispiel, wenn wir einen Gegenstand kaufen. Wir bekommen etwas und zahlen dafür den Gegenwert in Geld. Der Ausgleich ist vorhanden und abgeschlossen.
Das kommt in der Familie allerdings sehr selten vor. Hier geht es immer wieder um das Geben und Nehmen auf emotionaler Ebene. Natürlich gibt es häufig auch einen materiellen Austausch, doch beim Thema Ausgleich geht es vorrangig um Liebe, Beistand, Geborgenheit, Unterstützung, … Darum, füreinander da zu sein, auf die eigene Art und Weise.
Wenn es in einer Beziehung (ob z.B. partnerschaftlich oder geschwisterlich ist dabei egal) keinen Ausgleich gibt und einer immer mehr nimmt, der andere immer mehr gibt, entsteht ein Ungleichgewicht. Und wie schon in den vorherigen Beiträgen dieser Reihe angesprochen, führt ein Ungleichgewicht immer zu dem Bestreben, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Wenn das die betroffenen Personen nicht selbst tun oder nicht mehr tun können, streben andere Familienmitglieder nach Gleichgewicht und es entsteht eine Verstrickung.
Ausgleich kann auf zwei verschiedene Arten geschehen: (Mehr oder weniger) bewusst oder unterbewusst.
Bewusster Ausgleich
Bewusster Ausgleich geschieht in zwischenmenschlichen Beziehungen immer, egal ob es eine Liebesbeziehung, eine Beziehung zwischen Geschwistern, Freunden oder Kollegen ist. Einer gibt, der andere nimmt. Und dann wieder umgekehrt. Auch wenn ich es hier „bewusster Ausgleich“ genannt habe, ist es nicht immer eine geplante, durchdachte, bewusste Handlung. Vielmehr meine ich damit, dass beiden Menschen in der Beziehung bewusst ist, dass es einen Ausgleich gibt und geben muss. Sobald der Ausgleich nicht mehr da ist und einer viel mehr gibt und der andere viel mehr nimmt, endet die Beziehung normalerweise.
Unbewusster Ausgleich oder das Streben nach Ausgleich
Das Streben nach Ausgleich auf der unbewussten bzw. unterbewussten Seite ist oft eines, das nicht erfüllt werden kann. Hier strebt ein Familienmitglied nach einem Ausgleich, der gar nicht seine Aufgabe ist.
Das kann zum Beispiel unter Geschwistern passieren, wenn das eine Kind sehr viel Glück im Leben hatte und das andere nicht (z.B. eine Behinderung hat oder gar nicht ins Leben gekommen ist). Dann kann es passieren, dass das gesunde/lebende Kind das Leben nicht vollkommen nimmt, um das Ungleichgewicht zwischen Glück und Unglück nicht noch größer zu machen. Das ist eine Dynamik, die unbewusst erfolgt – eine Verstrickung, die in einer Familienaufstellung sichtbar gemacht und gelöst werden kann.
Immer wieder Thema in Familienaufstellungen ist auch der Ausgleich großer Schuld, zum Beispiel, wenn einer der Vorfahren eine Täter-Rolle im Krieg innehatte und durch ihn oder sie direkt oder indirekt viel Leid und Tod ausgelöst wurde.
Doch der Ausgleich von Schuld muss gar nicht immer in solch „sichtbaren“ Themen begründet sein. Beispielsweise spüren alleingeborene Zwillinge auch manchmal Schuld in sich und versuchen sie auszugleichen.
All diese Ausgleichsversuche geschehen unterbewusst. Und ich schreibe absichtlich „Versuche“, denn ein wahrer Ausgleich kann hier nicht geschehen. Niemand wird wieder gesund oder lebendig, weil ein anderer leidet. Hier darf eine andere Lösung gefunden werden, eine andere Art von Ausgleich. Und das ist auch extrem wichtig, um die Verstrickung nicht immer weiter fortzuführen über viele Generationen. Einfach zu sagen „Das ist gar nicht meine Aufgabe“ löst die Verstrickung in den meisten Fällen nicht. Es geht immer wieder darum, diese Aussage auch im Gefühl ankommen zu lassen.
Folgen eines Ungleichgewichts in der Ausgleichs-Dynamik
Oben habe ich bereits einige Bespiele aufgeführt, die ein Ungleichgewicht beim Thema Ausgleich darstellen.
Wenn es in Paarbeziehungen zu einem dauerhaften Ungleichgewicht von Geben und Nehmen kommt, ist die Beziehung normalerweise vorbei. Auch wenn ggf. keine Trennung erfolgt (dahinter kann dann eine andere Dynamik stecken), führt es doch zu einem inneren Ende der Beziehung.
Wenn ein Geschwisterkind versucht einen Ausgleich zu schaffen für großes Glück/Unglück (z.B. aufgrund einer Behinderung oder auch bei alleingeborenen Zwillingen oder nicht gekommenen Geschwistern (z.B. bei Fehlgeburt)), kann sich das auf ganz verschiedene Weisen äußern:
Möglich ist, dass das lebende/gesunde Geschwister das Leben nicht voll nimmt und sich selbst nicht erlaubt, glücklich und erfüllt zu sein. Das kann dazu führen, dass…
- das Leben als sehr anstrengend wahrgenommen wird
- das Geld immer nur so gerade reicht
- der eigene Kinderwunsch nicht erfüllt wird
- es eine Blockade gibt, die beruflichen Erfolg oder eine erfüllte Partnerschaft verhindern
- es wiederkehrende gesundheitliche Problemen gibt
- …
Die Folgen sind wie immer so individuell wie jede Familie und jeder Mensch. Es darf immer wieder individuell und genau hingesehen werden, welche Dynamik(en) hinter einem Thema stecken.
Übrigens muss das nicht unbedingt eine Dynamik zwischen Geschwistern sein. Die angesprochenen Beispiele können auch auftreten, wenn ein Kind sich als Last für seine Eltern empfindet. Weil diese zum Beispiel eine schwere Zeit hatten, während das Kind klein war oder das Kind nicht gewollt war oder auch wenn die Eltern aufgrund der Schwangerschaft geheiratet haben. Eine mögliche Ursache kann es auch sein, wenn die Eltern durch das Elternwerden Abstriche in ihrem Leben gemacht haben, zum Beispiel bei der Ausübung des Berufs oder der Erfüllung der eigenen Träume.
All das kann bei dem Kind Schuldgefühle auslösen und dazu führen, dass unbewusst nach Ausgleich gestrebt wird, indem sich das eigene Glück nicht erlaubt wird. Und zwar auch dann, wenn das Kind bewusst gar nichts von diesen Ereignissen weiß. Energetisch ist alles im Familiensystem.
Der Versuch, große Schuld auszugleichen geschieht oft noch unbewusster. Wenn es viele Opfer gab, die (direkt oder indirekt) durch einen Vorfahren ausgelöst wurden, finden sich in der Familie oft wiederholend schwere Schicksale, wie schwere Krankheiten, viele Unfälle oder auch viele Fehlgeburten. Hier strebt nicht nur ein Familienmitglied nach Ausgleich, sondern viele im ganzen Familiensystem.
Dieser versuchte Ausgleich kann sich aber noch anders äußern, nicht immer müssen es so offensichtliche schwere Folgen sein: Auch ein Aufopfern für andere, der Versuch anderen das Leben zu retten oder zu erleichtern, kann eine Folge sein. Das kann sich zum Beispiel in der Arbeit in einem heilenden oder pflegenden Beruf zeigen.
Achtung, bei allen Beispielen gilt: Kann, nicht muss. Wenn du bei dir eine Verstrickung vermutest, lohnt es sich hinzuschauen. Buch dir gerne direkt dein Kennenlerngespräch und wir schauen gemeinsam!
Ausgleich zwischen Eltern und Kindern
Zwischen Eltern und Kindern gibt es keinen Ausgleich in dem Sinne. Hier geht es nicht um zwei ebenbürtige Parteien einer Beziehung, also kann auch kein Ausgleich stattfinden. Die Eltern geben und die Kinder nehmen. Alles, was sie zum Leben brauchen. Der Ausgleich erfolgt indirekt: Die Kinder geben es irgendwann an ihre Kinder und auch an andere weiter. Sie müssen ihren Eltern nichts „zurückzahlen“. Der Ausgleich geschieht später.
Manchmal stoßen wir hier auf ein Gefühl von Schuld oder Verpflichtung, besonders wenn unsere Eltern uns sehr stark unterstützen. Es ist nicht so, dass wir ihnen nichts zurückgeben dürfen. Das dürfen wir, doch wir müssen dabei darauf achten, die Beziehung im Gleichgewicht zu wahren. Wir dürfen sie als Sohn oder Tochter unterstützen, nicht aber in eine andere Rolle schlüpfen und aus einer anderen Perspektive handeln.
Das wiederum wäre eine Verschiebung der Ordnung. Sobald sich Kinder um ihre Eltern kümmern, wie es eigentlich Eltern bei ihren Kindern tun, gibt es eine Rollenverschiebung und eine Verstrickung, die angesehen und gelöst werden darf.
Wie Ausgleich geschehen kann
Ausgleich kann auf verschiedene Arten geschehen. Wie ganz zu Beginn des Beitrags aufgeführt, kann Ausgleich durch einen tatsächlichen Tausch herbeigeführt werden, wie zum Beispiel die Bezahlung eines Gegenstands oder einer Dienstleistung.
Ausgleich kann aber auch auf emotionaler Ebene geschehen, zum Beispiel in Paarbeziehungen, aber auch in anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch das gegenseitige Helfen führt zu einem Ausgleich.
Auch ein „Danke“ von Herzen kann ein Ausgleich sein. Gesehen und wertgeschätzt zu werden, ist ein elementarer Teil des Ausgleichens. Wichtig ist, dass es ehrlich ist und für den anderen auch gefühlt ein wahrer Ausgleich ist.
Ausgleich in Verstrickungen
Wie kann aber Ausgleich entstehen, wo es Schuldgefühle und ein inneres Streben nach Ausgleich gibt? Oft passiert das in Situationen, die gar nicht mehr ausgeglichen werden können oder aber auch gar nicht müssen, weil nicht beide Seiten die Notwendigkeit sehen.
Hat zum Beispiel ein Geschwister mehr Glück als das andere, ist es gar nicht immer so, dass von Seiten des vermeintlich unglücklicheren Geschwisters ein Ausgleich gefordert wird. Oft ist es ein inneres Schuldgefühl, dass zu der Annahme verleitet. Hier helfen das Bewusstmachen der Verstrickung und das Auflösen in Liebe. Insbesondere hilft es hier, zu fragen, ob sich überhaupt ein Ausgleich gewünscht wird.
Eine andere Situation ist das Bestreben nach Ausgleich bei großer Schuld, die viele Opfer hervorgebracht hat. Hier geht es darum, Verantwortung zu übernehmen, vor allem von Seiten der Täter. Außerdem führt es hier nicht zum Ausgleich, selbst immer wieder Opfer zu bringen. Meiner Erfahrung nach ist es so, dass die Opfer als solche anerkannt und gesehen werden wollen. Dass sie nicht vergessen oder verschwiegen werden, sondern als Teil der eigenen Vergangenheit angenommen und den Opfern gedacht wird. Das ist ein wichtiger Prozess vieler Aufstellungen, insbesondere in der deutschen Vergangenheit mit zwei Weltkriegen.
Das, was ich hier beschreibe, ist sehr vereinfacht. Es ist immer wichtig, dass es auf der emotionalen Ebene geschieht und die Energie auch im Familiensystem ankommt. Es muss echt sein, sonst hat es keine Wirkung.
Trigger
Wenn dich mein Beitrag triggert und etwas in dir aufwühlt, melde dich gerne bei mir und wir sprechen darüber.
Kurz und knapp zusammengefasst
- In allen Beziehungen geht es um den Ausgleich von Geben und Nehmen.
- Ausgleich kann bewusst erfolgen oder unbewusst erlangt werden wollen.
- Zwischen Eltern und Kindern gibt es keinen direkten Ausgleich.
- Das innere Streben nach Ausgleich kann sich sehr vielfältig zeigen.
- Ausgleich kann auf verschiedene Arten erfolgen. Echt und von Herzen muss er immer sein.
Hast du noch Fragen? Schreib sie gerne in die Kommentare oder schreib mir eine E-Mail an hallo@kirendierkes.de
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